Sabina Bossert: Lea Bloch: Ich glaubte, ins Paradies zu kommen

Cover
Titel
Ich glaubte, ins Paradies zu kommen. Leben und Überleben des Flüchtlings Kurt Bergheimer in der Schweiz


Autor(en)
Bloch, Lea
Reihe
Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
196 S.
von
Sabina Bossert

Die vielzitierte Hinwendung der Geschichtswissenschaft zum Individuum und zur Biographie ist um ein Werk reicher. Lea Blochs Untersuchung «Ich glaubte ins Paradies zu kommen» stellt den jüdischen Flüchtling Kurt Bergheimer (1925–2007) ins Zentrum. Exemplarisch dient sein Schicksal, um die Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs sowie den Umgang mit Flüchtlingen in der Nachkriegszeit zu umreissen. Ein besonderes Augenmerk wird – angesichts Bergheimers Alter bei seiner Flucht in die Schweiz – auf die Auswirkungen gelegt, die Flucht- und Holocausterfahrung auf Jugendliche hatten.

Die Einleitung des Buches («Zu diesem Buch», S. 9–15) beinhaltet eine kurze Zusammenfassung der Biographie Bergheimers, eine historische Einordnung sowie einen Überblick über den Forschungsstand. Die Publikation ist aus der Masterarbeit der Autorin entstanden. Die Einleitung wird mit der Erklärung abgeschlossen, dass die Autorin die Hauptpersonen, Kurt Bergheimer und Bertha Bigler, eine Flüchtlingshelferin und die spätere Adoptivmutter von Kurt Bergheimer, in ihrer Darstellung beim Vornamen nennen wird. Ihre Begründung ist nachvollziehbar: «Diese Darstellung hat sich aus den vielen persönlichen Quellenmaterialien ergeben und trägt dazu bei, der Leserin und dem Leser die Protagonisten der Erzählung näherzubringen.» (S. 15). Dennoch lässt die Verwendung der Vornamen den Eindruck mangelnder Objektivität oder Distanzierung zum Forschungsthema entstehen.

Der erste Abschnitt des erzählenden Teils schildert Bergheimers Leben bis zu seiner Ankunft in der Schweiz (von der Autorin in der Einleitung irrtümlicherweise bezeichnet als «das Leben von Kurt Bergheimer vor der Verfolgung», S. 12). Kurt Bergheimer stammte ursprünglich aus Deutschland. Er wurde gemeinsam mit seinen Adoptiveltern nach Gurs und Rivesaltes deportiert. Während seine Adoptiveltern in Auschwitz ermordet wurden, gelang ihm die Flucht in die Schweiz, die er sich als «Paradies» (S. 30.) imaginierte, das Zitat, das im Titel des Buches aufgenommen wird.

Die Chronologie der Geschichte wird an dieser Stelle von der Autorin bewusst und in einer spannenden Weise durchbrochen: Statt die Biographie linear weiterzuführen, folgt ein ausführliches Kapitel zur Flüchtlingspolitik der Schweiz (S. 33–41), in dem sich die Autorin einerseits mit der offiziellen Politik und Praxis gegenüber Flüchtlingen, andererseits mit dem Leben in der Internierung befasst. Das theoretische und einordnende Kapitel ist eins der stärksten des Buches.

Im Anschluss an das theoretische Kapitel kehrt die Autorin zur Geschichte Bergheimers zurück. Sie geht dabei nicht streng chronologisch vor, sondern wählt fünf Thematiken (von der Autorin «Beziehungen» genannt), anhand deren sie sein Leben in der Schweiz aufzeigt: Die Beziehung Bergheimers zur Schweiz, zu den zivilen Institutionen (z.B. Bildung), seine gesellschaftlichen und persönlichen Beziehungen sowie seine Selbstbeziehung. Diese thematische Erzählweise ist gut gewählt und ermöglicht eine interessante Schwerpunktsetzung. Die Kapitel werden jeweils durch ein Zwischenfazit abgeschlossen, das die Lesbarkeit erhöht und die Leserschaft leitet. Gleichzeitig führt dieses Vorgehen aber auch zu gelegentlichen Redundanzen und Zeitsprüngen. Im Allgemeinen zeigt die Autorin jedoch in gelungener Weise auf, wie Bergheimer sich in der Schweiz einzufinden versuchte und beschreibt seinen Kampf mit Behörden und Institutionen, um in der Schweiz bleiben und seine Ausbildung beziehungsweise seinen Lebensunterhalt finanzieren zu können. Sie scheut sich dabei nicht, auch Ambivalenzen oder kritische Punkte zu thematisieren, so die Vermutung, «dass Kurt und Bertha aus der Beziehung vom VSJF [Verband Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen/Fürsorgen] Vorteile gezogen haben, indem sie finanzielle Unterstützung annahmen, die sie vielleicht gar nicht benötigten» (S. 73), seine asymmetrische Beziehung zu Bertha Bigler (S. 80 f.) oder Bergheimers Überlegungen zu einer möglichen Homosexualität (S. 90). Im ansonsten aufschlussreichen und kritischen Kapitel über die «Selbstbeziehung» stört die Übernahme der Quellensprache mit der Bezeichnung von jungen Frauen als «Mädchen» (S. 90 f.).

Kapitel 5 widmet sich Bergheimers Leben nach der Einbürgerung. Auch hier bestehen gelegentlich Redundanzen zu anderen Kapiteln, beispielsweise wenn wiederum die Beziehung zu Bertha Bigler oder Bergheimers «Selbstbeziehung» aufgenommen wird. In Kapitel 6 schliesslich resümiert die Autorin einige Konstanten und Wandlungen in Bergheimers Leben und schliesst ihre Ausführungen mit Reflexionen (S. 139 f.) ab. Diese abschliessenden Überlegungen sind aus der persönlichen Sicht von Lea Bloch verfasst und geben dem Buch eine spannende zusätzliche, subjektive Note.

Die Erörterungen zur Methodik («Quellen und Methodik», S. 147–149) folgen erst am Schluss des Buches, wobei im Unterkapitel «Quellen» (S. 147–149) Informationen zum Quellenkorpus und methodisch-theoretische Erörterungen vermischt werden. Durch die Einordnung am Ende des Buches erscheinen diese Kapitel wie Fremdkörper, was zusätzlich dadurch verstärkt wird, dass die Autorin zwar auf unterschiedliche Kategorien von Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten eingeht und eine Unterscheidung zwischen «echten» und «unechten» Tagebüchern macht (S. 148), diese Überlegungen aber nur wenig Eingang in den Hauptteil fanden. Gerade die Tatsache, dass Bergheimer «die Erlebnisse der Jahre 1925 bis Anfang 1945 […] nachträglich niedergeschrieben» (ebd.) hat, hätte bei der kritischen Einordnung der jeweiligen Tagebucheinträge beachtet werden sollen.

An einigen Stellen gelingt der Autorin eine kritische Betrachtung von Selbstzeugnissen durchaus, wenn sie beispielsweise auf die Stimmung Bergheimers beim Tagebuchschreiben eingeht und dazu festhält, dass dieser seine Tagebucheinträge oft in einer getrübten, pessimistischen Gemütslage verfasste und deswegen der Eindruck entstehen könnte, dass auch sein Leben so geprägt gewesen wäre. Dieser Eindruck hingegen trüge: «Kurts Sicht auf das Leben war also nicht so pessimistisch und er weniger deprimiert, als es sein Tagebuch vermittelt.» (S. 91.)

Das Buch von Lea Bloch ist eine solide und reichhaltige Biographie Kurt Bergheimers. Der Autorin gelingt es, sein Leben und seine Person umfassend darzustellen und der Leserin / dem Leser mitsamt seinen Ambivalenzen und Brüchen näherzubringen. Kurt Bergheimer wird dabei als Person beschrieben, die durch Glück in die Schweiz hat flüchten und – u. a. durch die tatkräftige Hilfe von Bertha Bigler, aber insbesondere auch von jüdischen Institutionen – eine neue Existenz hat aufbauen können. Dass dabei die Untersuchung zu Bergheimers Leben für die Autorin nicht isoliert steht, zeigt der letzte Satz ihrer Reflexionen, in dem sie vom Umgang mit (minderjährigen) Flüchtlingen in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs sowie in der Nachkriegszeit eine Linie zieht zu unbegleiteten Jugendlichen, die heute nach Europa flüchten (S. 140).

Zitierweise:
Sabina Bossert: Lea Bloch: Ich glaubte, ins Paradies zu kommen. Leben und Überleben des Flüchtlings Kurt Bergheimer in der Schweiz, Zürich: Chronos, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 343-345.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 343-345.

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